Ab Morgen gibt es wieder so etwas Altmodisches wie eine Fortsetzungsgeschichte.
Aber jetzt, zum letzten Mal ein normaler Buchtipp:
Das Adressbuch
Sophie Calle
Bibliothek Suhrkamp
Manchmal sinkt Sophie müde und mutlos in einen durchgesessenen Sessel wie diesen hier.
Aber sie kann auch glücklich sein.
Manchmal, sagt der Sessel
Sophie hat das große Talent, dem Leben mehr abzuringen als es freiwillig hergibt. Sie ist eine Voyeurin, eine Stalkerin, eine großartige Künstlerin. Sie ist eine einsame Jägerin, die sich an die Fußspuren von Fremden heftet, um sich selbst aus ihrer Verlorenheit herauszuführen.
Einer jener Fremden im Leben von Sophie hieß Pierre D. So ist dann alles gekommen. So ist dieses sehr zärtliche, sehr skandalöse Projekt „Das Adressbuch“ entstanden. Sophie hatte im Jahr 1983 ein solches, ein fremdes, tatsächlich gefunden und kopiert, bevor sie es anonym an den Besitzer, jenen gewissen Pierre D., zurückschickte. Dann hat sie begonnen, zu denen, die verzeichnet waren, Kontakt aufzunehmen.
Darunter war auch die Besitzerin eines gewissen Sessels.
Ein Zwilling von diesem hier.
Sophie traf sich mit dieser Sesselbesitzerin, aber auch mit D. ´s Familie, anderen Freunden, Bekannten und einigen Affären und erfuhr so, dass er eine schöne Stimme hat, körperlich aber eher so wirkt, als sei er einem Film der Marx Brothers entsprungen. Mehr und mehr Gespräche erweiterten das Bild. Pierre D. hat sich tatsächlich mit Filmtheorie und eigenen experimentellen Filmarbeiten beschäftigt. Er ist übergangsweise Kommunist gewesen, sagt der eine, aber ein ganz höflicher, affektierter, unterwürfiger, meint ein nächster. Er ist ein homme a femme, der Frauen in Netzstrümpfen und Strapsen liebt, jedoch allein, sehr allein lebt, verrät eine engere Freundin. Verrät sie damit ihn?
Ja, sagt ihr Sessel.
Dass seine Haare nach dem Tod seiner Mutter innerhalb einer Woche grau geworden seien, gibt eine andere Frau namens Martine R. für Sophie zu Protokoll, hat aber offenbar nur eine halbe Stunde Zeit für dieses investigative Treffen. Sophie selbst bemerkt beim Durchstöbern von Pierres D´ s Adressbuch, dass in seiner Handschrift kein Anzeichen von Boshaftigkeit ist, und dass er Menschen, die gestorben sind, nicht ausstreicht, nicht löscht, sondern deren Todesdatum hinter dem Namen notiert. Das muss einer wie ihr gefallen haben. Wer tot ist, ist nicht tot, er wechselt nur die Räume. Er geht durch unsere Träume.
Versteh ich, sagt der Sessel, das verstehe ich gut.
Sophie ist geboren 1953 in Paris, ging nach der Schule auf eine siebenjährige Weltreise und arbeitete als Barfrau, als Zimmermädchen in Venedig, als Hundedompteurin im Zirkus und als Stripteasetänzerin. Nach ihrer Rückkehr nach Paris, wo sie jetzt als eine der bekanntesten Konzeptkünstlerinnen weltweit lebt, fing sie an, Unbekannte zu verfolgen und zu fotografieren. Immer wieder beschäftigt sie sich im Rahmen der „Kunst“ mit der eigenen und den fremden Biografien, so wie sie es schon als Zimmermädchen in Venedig tun musste, wenn sie die Habseligkeiten der Gäste auf Geschichten hin durchschnüffelte. Ja, so ist dann alles gekommen. Sophie verliebt sich offenbar auf eine scheue und aufdringliche Art zugleich in den Besitzer des Adressbuchs, oder wenigstens verliebt sie sich in das Bild, das andere von ihm entwerfen. Sie verliebt sich in eine Kunstfigur oder in ihre eignen Wünsche. Aber Wünsche sind potentielle Handlungen. In 28 Folgen erschienen 1983 ihre investigativen Gespräche in der „Liberation“. Ist das Kunst oder Datenmissbrauch? Ist das ein Affront oder eine Suchanzeige gewesen? Pierre D., bitte finde mich, ich bin schon fast dreißig!!!
Ach, die Menschen, sagt der Sessel.
Als Pierre D. nach langer Abwesenheit zurück nach Paris kommt, ist er über den realistischen Fortsetzung Roman in der Liberation, in der er die Hauptfigur ist, gar nicht erfreut. Wen wundert das? Aber verblüffend für den Leser dieses „Adressbuchs“ – das jetzt, nach dem Tod von Pierre D. , bei Suhrkamp erschienen ist als ein sehr schönes „Objekt“ mit geheimnisvollen Fotos, die auf einer weitere Ebene Zugang zu Sophies Recherche verschaffen und auf der Hälfte des Buches einen stummen, aber irgendwie vorwurfsvollen Sessel zeigen – ja, verblüffend ist tatsächlich, wie vertrauensvoll ein jeder vom Freund erzählte, als wäre er ein Stück von ihm selbst. Mit jeder neuen Begegnung wird Pierre D. in diesem „Adressbuch“ plastischer und zugleich undurchdringlicher. Sophie hört auf, die eigenen Freunde zu sehen und trifft stattdessen die seinen. Aus der Frage: Wer ist Pierre D,. schält sich am Ende eine Nachforschungen in Sachen eigener Person: „Was ist mit mir, was hab ich denn“, muss sich Sophie in jener Zeit gefragt haben. Pierre D. will Sophie auf keinen Fall treffen. Er muss sich gefühlt haben, als hätte sie ihn unerlaubt beim Schlafen beschaut. Sophie Calle bleibt also allein mit dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hat. So ist es also zum Äußersten nicht gekommen? Oder doch?
In der Kunst, wenn auch nicht im Leben, vermutet der Sessel.