In Dortmund macht man aus jeder Ecke das Beste

Judith KuckartStadtbeschreiberin Judith Kuckart

BVB-Ecke: Fotograf Sebastian Mölleken – Evonik

… Hauptsache, das Gefühl stimmt

Hille hat mir von dem Haus erzählt. Genau an der Ecke hier. Ein mystisches Haus, Kotku, hat Hille gesagt, ein magischer Ort im finstersten Süden von Dortmund. Wenn du mal mit Schlüssel da rein willst, bevor es abgerissen wird, hat sie gesagt, frag in der Kneipe schräg gegenüber. Die heißt Union-Eck, obwohl sie platt in einer Häuserzeile steht und an gar keiner Ecke ist. Aber früher, bevor das Union-Eck wegen Sanierung umziehen musste, hat das es tatsächlich an einer Ecke gelegen. Wenn du reinkommst, Kotku, merkst du es noch heute: Das Eckkneipengefühl ist geblieben, auch ohne Ecke. Nicht die Tatsachen müssen stimmen, sondern das Gefühl, dann geht jede Ecke direkt ins Ziel … so redet Hille, und behauptet, sie weiß, wovon sie spricht. Selbst, wenn es um Fußball geht. Aber auch da geht es bei ihr nur um Gefühl. Oder um Männer, ich weiß es nicht. Wenn du also tatsächlich einmal mit Schlüssel in das mystische Haus gehen willst, sagt Hille, pass auf dich auf. Du wärest nicht der erste, der dort verschwindet, – verschwindet wie eine Faust, wenn die Hand sich öffnet. Hille heißt eigentlich Hildegard. Ich heiße auch nicht Kotku, also „Häschen“ oder „Kätzchen“, sondern Marco. Marco ist ein Name für Fußballer. Hille hat sich ihr Leben lang in Fußballer verliebt und die wahrscheinlich auch alle „Kotku“ genannt. Connie, was Hilles Tochter und meine Mutter ist, hat dieses Repertoire erweitert. Bei ihr durfte es auch mal ein Briefträger sein. Wie mein Vater, der auch gleich nach meiner Geburt verschwunden ist, auch wie eine Faust, wenn die Hand sich öffnet, würde Hille sagen. Ist eben so.  Ja, und weil das eben so ist, dass ich keinen Vater habe, sehen viele Männer schnell wie ein Vater für mich aus, wenigstens von hinten, und vor allem, wenn sie gerade weggehen. So wie der da drüben bei dem weißen Transporter, der soeben hier vorbei kam, kurz auf mein schwarz-gelbes Stück Kunst am Bau geschaut hat und in wenigen Sekunden mit Sporttasche und watscheligem Gang um die die nächste Ecke verschwinden wird. Ja, so ist das …. Ist er weg, hat Hille damals gefragt, als wir vor ihrer Tür am Winterberg 72 a standen. Connie hat geweint, vor Kummer. Ich Bündel, wegen Hunger. Ach Connie, kommt rein, Raum ist in der kleinsten Hütte, hat Hille gesagt, und so sind wir bei ihr eingezogen. „Shit happens“, nennt Connie seitdem die etwas angespannte Wohnsituation im Häuschen, wo wir nun seit bald  Jahren achtzehn Jahren leben, und wo die Zimmer klein sind wie Fischdosen. Fischdosengefühl, das kenn ich, hat Hille gesagt, das war bei mir damals genauso, als ich auch mit Baby und ohne Mann hier her zurückkam…  Ja, auch Hille ist eines Tages um 1977 herum ins Häuschen am Winterberg 72 a zu ihren Eltern zurückgekommen und hat sich mit ihrem dicken Bauch, der einmal Connie sein würde, auf die winzige Innenveranda vor der Eingangstür gesetzt, hat ein bisschen gejammert, geraucht und ein bisschen löslichen Kaffee getrunken und dabei Briketts wie früher vom Himmel regnen sehen. Wer ist jetzt der Vater, wollte Hilles Vater wissen. Ente, sagte Hille. Bind mir keinen Bär auf, Hille, sagte Hilles Vater. Tue ich nicht, sagte Hille, keine Sorge, Ente gut, alles gut. Dafür bekam sie eine Ohrfeige.Sie warf  den Kopf in den Nacken, ihre Zigarettenkippe ins Klo und ging gleich nachdem Connie endlich geboren war, wieder ins Schwimmbad. Ins Volksbad am „Stadion Rote Erde“, ungefähr 150 Meter vom Bahnhof Hörde entfernt, genau dahin, wo sie sich im Sommer zuvor – ihrem letzten Sommer ohne Connie –an einem jener unendlich  trägen Sommernachmittag verliebt hatte. Auf ihrem Badehandtuch machte Hille alles, was sie zuhause auch gemacht hätte: Krimi lesen, Pickel ausdrücken, Bier trinken, hartgekochte Eiern essen oder süßen Speck, flirten, das Kind einer Nachbarin wickeln, trösten, kitzeln, während auf oder unter dem Badetuch nebenan bereits das nächste Kind in der Mache ist. Und alles, alles, alles fand auf lauter kleinen akustischen Inseln statt, die von Transistorradios beherrscht wurden…  Ecke, und Tor!!!  … Eigentlich Kotku, sagt Hille, müsstest du jene Liegewiese vermissen, auch ohne je dort gewesen zu sein. Denn dort habe ich zum Beispiel in jenem letzten Sommer ohne Connie zum ersten Mal deinen Großvater gesehen. Ja genau den, welcher Connie die griechische Nase und dir, seinem Enkel, diesen Griff in den Nacken vererbt hat, den du schon als Kind an dir hattest, wenn du nachgedacht hast, ohne nachzudenken. Ich, sagt Hille, bin an jenem Tag damals mit Irmi, Hans, Helmut und Röschen, und wie gesagt, noch ohne Connie ins Schwimmbad gegangen. Er hat auf einem Badehandtuch nicht weit von uns fünf gelegen. So ein Mann mit Augen, dass man vom Schauen schon schwanger wird, einer, dessen Blick einem direkt in den Bauch greifen kann. Dazu lag er auch noch auf einem schwarz-gelben Handtuch. Später, als ich meine Sachen packte, stand auch er auf und zog ein kurzärmeliges gelbes Trikot an. Dann lief er mit ausgedrehten Füßen über die Wiese Richtung Ausgang, und ich rief hinter seinem Watschelgang her: Hey, früher mal Ente gewesen, oder? Er drehte sich um und lachte, so wie einer lacht, wenn man ihn erkannt hat. Und früher? Ach, was heißt denn hier früher, Kotku? Keine hundert gefühlte Herzschläge später sind wir, Ente und ich, in jenem Haus gelandet, dem magischen Haus an der Ecke, in dem Menschen verschwinden, … du weißt schon .Demnächst soll es abgerissen werden. Ich finde, es sollte unter Denkmalschutz gestellt werden, Kotku. Warum? Frag nicht. Ein Grund hat immer viele Grunde. Es sollte unter Denkmalschutz gestellt werden, weil es etwas Besonderes und weil es  nichts Besonders ist, da an seiner Ecke.

Hille macht eine Faust, die sich langsam öffnet.

Tu was, Kotku, sagt sie, mach was aus der Ecke, mach was draus!