Wenn Judith Kuckart durch den Dortmunder Stadtteil Hörde geht, denkt sie an ihre drei Tanten. Gerda, Irmel und Annelise. Alle lebten in Hörde, die Männer waren Stahlarbeiter bei Hoesch. Eine der Tanten ist tot umgefallen, einfach so, mit 24 Jahren. Sie trug ihr Baby im Arm, und weil die Leichenstarre ungewöhnlich schnell einsetzte, konnte man es kaum aus der Umklammerung befreien. Das war im Jahr 1968. Mit solchen Szenen fangen Romane an. Aber diese Geschichte ist Realität.
Judith Kuckart schreibt Romane. Aber auch Theaterstücke. Das Thema Heimat ist zentral für sie. Nun erkundet sie noch bis Januar Dortmund. Als erste Stadtbeschreiberin, nicht Stadtschreiberin, sie soll den Strukturwandel begleiten und reflektieren. Das tut sie unter anderem mit dem Erzähltheaterprojekt „Hörde, mon amour“. Neben Profis sind Leute aus dem Stadtteil dabei, „Heimatexperten“ werden sie genannt. Einer davon ist Norbert, das Baby von damals.
Hörde ist ein krasses Beispiel für den Strukturwandel. Früher bestand der Ort weitgehend aus dem Stahlgiganten Hoesch, der Zentralkamin hieß „Hoerder Fackel“ und war ein Symbol für die Industrie im Ruhrgebiet. 2004 wurde er gesprengt, weil er nun als Relikt galt. Nebenan war der Phönixsee entstanden, und drum herum eine schicke Wohngegend mit Restaurants und teuren Wohnungen. „Wenn man dort spazieren geht“, erzählt Judith Kuckart, „dann gibt es einen Übergang zum alten Raum. Eine ganz komische Grenze, die man richtig überschreitet. Und dann ist man in diesem neuen Raum Phönixsee.“
Im „alten Raum“, bei den Tanten, war Judith Kuckart oft als Kind. Deshalb hat es sie gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit als Stadtbeschreiberin dorthin gezogen. „Da sind drei Gotteshäuser“, erzählt sie, „also eine portugiesische Kirche und zwei Moscheen, eine kleine für die Männer, eine kleine für die Frauen. Im Stockwerk über der Männerbetstelle ist ein Atelier. Daneben ist ein riesiger Dachboden und unter diesem Dachboden sind Schrauber, also Garagen.“ Mit dem Blick der Theaterfrau wurden diese Orte sofort zu möglichen Spielstätten ihres Erzähltheaters. „Auch ein einzelnes Wohnhaus, wo man denkt, das ist aus Twin Peaks. Das ist türkisgrün, und auf dem Balkon stehtein roter Sonnenschirm. Und aus dem Gebüsch kommt ein Mann in einer schicken Badehose und mit einer Bierflasche und sagt: Kann ich ihnen helfen? Ganz freundlich, das ist der Hausmeister.“
Die Pandemie killt nun auch die öffentlichen Aufführungen des Erzähltheaters. Aber Judith Kuckart gibt nicht auf, das gesammelte Material begeistert sie zu sehr. Vielleicht wird ein Film daraus, vielleicht ein Hörspiel, vielleicht ein Buch. Nächste Woche will sie die Geschichten aufnehmen, die ihr die Anwohner erzählt haben und die sie in einem poetischen Text verdichtet hat. Da gibt es zum Beispiel eine junge Frau, die aus Damaskus geflohen ist und die Geschichte ihrer Flucht anhand der Kleidung erzählt, die sie dabei getragen hat. Irgendwann waren ihre Schuhe weg, ebenso ihre Familie, verloren im Wasser des Meeres auf der Überfahrt.
Eine andere Frau hat so ein scharfes Ohr für Dialekte, dass sie in der Straßenbahn unterscheiden kann, ob jemand aus Bochum, Dortmund-Zentrum oder Hörde kommt. Ein ehemaliger Pastor hat sein Leben lang als Mittler zwischen Montanindustrie und Kirche gearbeitet. Er bezeichnet sich als „professioneller Nachbar“. Marlene wiederum stammt aus Jamaika und betreibt am Borsigplatz im Dortmunder Norden ein Café, in dem die Dortmunder Tafel kostenlos Mittagessen ausgibt. Als Judith Kuckart dort vorbei ging, wurde sie gefragt: „Willst du mitessen?“ Wollte sie, so kam der Kontakt zustande.
Die Autorin wohnt am Borsigplatz. Die Stadt hat ihr dort eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Alles ist in schwarzgelb, den Farben von Borussia Dortmund, sogar die Bettwäsche. Am Borsigplatz treffen sich in normalen Zeiten die Fans und feiern Siege – wenn es was zu feiern gibt. Dem Fußball entkommt niemand, der hier wohnt. Es gibt zwei völlig gegensätzliche Sichtweisen der Dortmunder Nordstadt. Die einen meiden sie, haben Angst vor Drogen- und Bandenkriminalität, bezeichnen sie als graue, unattraktive No-Go-Area. Die anderen erklären die Gegend als Zentrum des multikulturellen urbanen Lebens. „Ich hab das Gefühl,“ beschreibt Judith Kuckart, „ich wohne an einem Hafen. Es gibt so unglaublich viele unterschiedliche Sprachen dort. Selbst wenn man mit einem ganz speziellen Dialekt aus Afrika kommt, geht man in einen Laden und es dauert ganz kurze Zeit, und jemand hinter dem Toilettenpapierregal sagt: Hm, aus welchem Dorf kommst du? Das erinnert mich an meine Vorstellung, die ich immer von Hafengegend hatte.“
Judith Kuckart lebt in Berlin. Es kann sie nicht erschüttern, wenn sie mal auf der Straße ein paar laute Worte hört. Ihre Texte sind sensibel, vielschichtig, poetisch. Doch die 61jährige ist kein zartes, schüchternes Wesen. Sie war Tänzerin im Ensemble von Johann Kresnik, der als provokanter Choreograph bekannt war, hat in heftigen Choreographien mitgewirkt. Die Tänzerin sieht man ihr auch heute an, sie ist schlank und drahtig, die dunklen Haare liegen glatt am Kopf. Außerdem hat Judith Kuckart einen bodenständigen westfälischen Humor. All das macht sie zu einer idealen Besetzung für das erste Dortmunder Literaturstipendium. „Ich glaube,“ sagt die Autorin, „sie haben sich ein bisschen vorgestellt, die kommt jetzt, und wenn sie abfährt, gibt es den ultimativen Dortmund-Roman. Den gibt’s da natürlich nicht. Aber vielleicht mal einen Roman in einigen Jahren, in dem Dortmund eine Hauptrolle spielt.“
Jetzt entstehen – neben dem Erzähltheater – kurze Impressionen. Die veröffentlicht Judith Kuckart in einem Blog auf der Seite „litauf.ruhr“. Sie postet nicht nur Texte, sondern auch Links. Assoziationen, Hinweise, Kommunikationsangebote. Und Fotos, die sie selbst schießt, zum Beispiel ältere Damen, die im Café Orchidee am Botanischen Garten sitzen und eine Kabarettveranstaltung anschauen. Oder Eindrücke von einem Besuch auf der Kokerei Hansa, wo die Natur sich das Industrieareal zurückerobert und faszinierende Räume entstehen. „Das sieht dort aus, als sei die Zeit stehengeblieben“, sagt die Autorin, „ich fühle mich wie in einem Film des russischen Regisseurs Andrei Tarkowski, wie in einer verbotenen Stadt.“
Es gibt eine Menge Bilder, die Judith Kuckart in den vergangenen Wochen gesehen hat. Und die sie auch im mündlichen Erzählen wunderbar zum Leben erweckt. Wie ein Besuch in einem ehemaligen Schwimmbad. „Da saßen drei Männer unter einem Baum, und es wirkte wie in Arkadien. Man sieht zwar noch die Kacheln, das Schwimmbad von einst. Aber alles ist bepflanzt, ein kleines Paradies.“
Judith Kuckart erlebt eine große Offenheit in Dortmund. Auch das Virus hat die Menschen nicht scheu gemacht. Vielleicht ein bisschen zurückhaltender. „Manche Menschen wirken schon etwas mäuschenhaft in sich gefangen.“ Aber dann gibt es wieder andere Erlebnisse. Bei einem Besuch im Hoesch-Museum landet Judith Kuckart in der Pförtnerloge, und die Angestellten teilen mit ihr Mett- und Leberwurstbrötchen. „In Berlin wird man deutlich seltener zum Essen eingeladen“, sagt die Autorin. Und zeigt sich begeistert von der Mentalität, dass das Glas deutlich öfter halbvoll als halbleer gesehen wird. „Man muss Dinge machen“, sagt Judith Kuckart, „die den Leuten wieder Mut machen. Man kann gut leben bis zum Schluss. Und auch gerne überleben.“
Fußnote: Judith Kuckart wurde 1959 in Schwelm geboren. Nach ihrer Zeit als Tänzerin leitete sie 14 Jahre lang das Tanzensemble Skoronel. Dann wurde sie Schriftstellerin. Nun bringt sie ihr altes Ensemble wieder zusammen. Das neue Stück „Die Erde ist gewaltig, aber sicher ist sie nicht“ beschäftigt sich mit dem Leben nach und mit dem Tanz. Ihr letzter Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ ist im vergangenen Jahr im Kölner Verlag DuMont erschienen und bekam hervorragende Kritiken.